Linie 1

Entlang der Strecke – Folge 3

Publiziert am: 21. Juli 2022
Eine Illustration zeigt ein älteres Paar. Die Frau telefoniert, der Mann schreibt Notizen nieder.

Heim-Fahrt

Das Telefon klingelt. Natürlich erkenne ich schon am Klingeln, wer dran ist: meine Eltern. Und ich weiß auch schon, wie der erste Satz lauten wird: „Hallo Tochter. Du weißt ja, dass sich deine Mutter wahnsinnig darauf freut, mit der Linie 1 direkt in die Innenstadt fahren zu können. Damit sie nicht ungeduldig wird, fahren wir bis dahin den Streckenverlauf mit dem Rad ab.” Meine Mutter ruft aus dem Hintergrund: „Heute sind wir auch wieder ein Stück gefahren.“ Mein Vater seufzt: „…aber so richtig weit sind wir nicht gekommen. Du kennst ja deine Mutter: Sie trifft immer jemanden, mit dem sie reden kann. Diesmal …

… haben wir den Nachbarn getroffen.“

Kurz frage ich mich irritiert, warum sie ein Stück fahren mussten, um den Nachbarn zu treffen. „Wir hatten die Fahrräder vor dem Haus stehen und wollten schon los“, erklärt mein Vater. „Aber dann hat deine Mutter bemerkt, dass das Hinterrad etwas mehr Luft vertragen könnte. Die Luftpumpe steht in der Garage, also sind wir dahin.“ Lautes Geraschel in der Leitung, dann ist meine Mutter dran: „Was glaubst du, wer sich da wieder mit seinem Auto aus dem Parkplatz gequält hat? Herr Meyer. Du weißt schon, der drei Häuser weiter, mit den Katzen und der Frau im Heim. Als er es endlich geschafft hatte, das Auto aus der Garage zu fahren, steigt er aus und grüßt. Wir grüßen zurück, fragen nach dem Befinden seiner Frau.” „Andere Leute hätten es dabei belassen, aber nicht deine Mutter“, brummt mein Vater aus dem Hintergrund.“ „Kann schon sein“, kommentiert meine Mutter, „aber ich habe mich schon öfter gefragt, wann er endlich das Auto stehen lässt und stattdessen Bus und Bahn fährt. Und jetzt habe ich eben nicht mich, sondern ihn gefragt.“ Was er geantwortet habe, möchte ich wissen. „Seine Frau ist im Pflegeheim in der Tegeler Plate“, berichtet meine Mutter. „Mit dem Bus kann er aktuell bis zur Delfter Straße fahren. Dann muss er allerdings die restliche Strecke zu Fuß gehen. Oder er fährt bis zum Roland-Center und muss dann von dort aus bis zum Heim laufen. Gleiche Situation also. Mit seiner Arthrose in den Knien schafft er das nicht. Darum fährt er mit dem Auto.” „Du kannst dir vorstellen“, ruft mein Vater lachend aus dem Hintergrund, „was deine Mutter ihm erzählt hat.” „Das ist doch klar!“, sagt meine Mutter bestimmt, „Ich habe ihm erzählt, dass er durch die Streckenverlängerung der Linie 1 mit der Bahn praktisch bis vor die Tür des Pflegeheims fahren kann. Das wollte er gar nicht glauben. Aber dein Vater und ich kennen uns ja inzwischen schon ein wenig aus und konnten ihm den Streckenverlauf genau beschreiben.“ „Wenn er es noch genauer wissen will, kann er ja auch zum Infopoint gehen und nachfragen. Oder auf der Website alles nachlesen”, ergänzt mein Vater.

„Wir rufen wieder an. Mach’s gut.“