Linie 1

Entlang der Strecke – Folge 2

Publiziert am: 17. Juni 2022
Eine Illustration zeigt ein älteres Paar. Die Frau telefoniert, der Mann schreibt Notizen nieder.

Ansichtssache

Das Telefon klingelt. Natürlich erkenne ich schon am Klingeln, wer dran ist: meine Eltern. Und ich weiß auch schon, wie der erste Satz lauten wird: „Hallo Tochter. Du weißt ja, dass sich deine Mutter wahnsinnig darauf freut, mit der Linie 1 direkt in die Innenstadt fahren zu können. Damit sie nicht ungeduldig wird, fahren wir bis dahin den Streckenverlauf mit dem Rad ab.” Meine Mutter ruft aus dem Hintergrund: „Heute sind wir auch wieder ein Stück gefahren.“ Mein Vater seufzt: „…aber so richtig weit sind wir nicht gekommen. Du kennst ja deine Mutter: Sie trifft immer jemanden, mit dem sie reden kann. Diesmal …

… haben wir mit einem Anwohner am Willakedamm gesprochen.“

Pause. Schweigen. „Papa?“, frage ich, weil er nicht weiterspricht. „Ich dachte, deine Mutter will was sagen …“ Aus dem Hintergrund höre ich ein gedämpftes Prusten. „Na gut, dann erzähl ich mal weiter. Wir standen an der Stelle, wo die Gleise queren – also deine Mutter und ich. Wir guckten uns die Stelle gerade genauer an, da hörten wir aus einem Garten rechts von uns jemanden rufen. Ich hätte da ja nicht drauf reagiert, aber deine Mutter ging natürlich sofort in die Richtung. Bis ich unsere Räder ordentlich abgestellt hatte, war deine Mutter schon mitten im Gespräch mit einem älteren Mann, der an seinem Gartenzaun lehnte.“ Die Stimme meines Vaters bricht abrupt ab, ich höre es knistern und schaben, dann ist meine Mutter am Telefon: „Ich habe mit dem Mann gesprochen. Dann sollte ich auch erzählen, worum es ging“, sagt sie bestimmt. „Zuerst hat er gefragt, ob wir uns für die neue Straßenbahn interessieren. Und dann, ob wir nicht auch finden, dass die völlig überflüssig ist, wo wir doch die Busse haben.“ „Da ist er an die Richtige geraten!“, ruft mein Vater aus dem Hintergrund. „Ach was“, sagt meine Mutter, „ich habe ihm einfach erzählt, was ich an der Straßenbahn alles gut finde! Dass ich nicht umsteigen muss, zum Beispiel, dass die Bahnen viel umweltfreundlicher sind als Busse und dass wir uns in der Stadt nicht in ein Parkhaus quälen müssen und so weiter.“ „Und?“, frage ich, „wie ist das Gespräch ausgegangen?“ Meine Mutter überlegt einen Moment, dann sagt sie: „Völlig überzeugt habe ich ihn wohl nicht. Aber ein paar meiner Argumente konnte er nachvollziehen. Hat er jedenfalls gesagt.“ „Miteinander reden ist in jedem Fall ein guter Weg, um Verständnis zu entwickeln“, antworte ich, während meine Mutter schon wieder an die nächste Radtour denkt: „Ich bin gespannt, wen wir auf unserer nächsten Tour treffen.“

„Wir rufen wieder an. Mach’s gut.“